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Elisabeth
(1808-
 
 Kulmann
1825)
 
 
 
Der Morgen
 
Grau ruht der weite Himmel
Stumm ob der stummen Erde.
Da hellt ein Punkt im Osten
Sich auf; wird immer größer
Und immer heller; ahmet
Itzt schwach der Perle Farbe,
Dann stufenweis das Leuchten
Des schillernden Opals nach;
Entfaltet nun dem Auge
Den holden Glanz der Rose,
Und bald darauf, in Schichten,
Das Gold der Sonnenblume,
Die Purpurpracht des Mohnes,
Dann ein Gemisch der schönsten
Und anmuthsvollsten Farben,
Der Tulpe gleich. Allmählig
Wird rings umher der Schimmer
Zu Glanz, der Glanz zu Strahlen.
Mit einemmal verbleichet
Der wunderbaren Farben
Unsäglich schöner Reichthum,
Und blendend zeigst, o Sonne,
Du Geberin des Lichtes,
Du Geberin der Wärme,
Du Geberin des Lebens
Und des Gedeihens alles
Erschaffenen, der Pflanze,
Des Thieres und des Menschen,
Dein goldnes Haupt du lächelnd
An des lasurnen Himmels
Glanzüberströmtem Rande;
Es hallen Luft und Erde
Vom Lied der Vögel wieder,
Und vom Gebrüll der Heerden;
In Andacht und Bewundrung
Versunken, stehet schweigend
Der Mensch mit nassen Augen.
 
 
 

Anmerkung des Herausgebers K. F. von Großheinrich:
 
1) Wenn wir folgende zwei Gruppen, die Tags- und Jahrszeiten mit einiger Aufmerksamkeit betrachten, so sehen wir, daß E. K. schon frühzeitig ihre Gegenstände mit großen, in's Auge fallenden und zugleich scharfen, nur dem jedesmaligen Individuum zukommenden Zügen zeichnete. Nie finden wir bei ihr Bilder, die (dem gegenwärtigen Falle gemäß sprechend) ihren Platz eben sowohl in einer Morgen- als in einer Abendscene, eben sowohl in einer Beschreibung des Frühlings als des Sommers finden könnten. Wie schön und anziehend dergleichen Bilder an sich sein mögen, sie verwirft sie, oder, im Vertrauen auf ihre Gewandtheit, schattirt sie so, daß sie durchaus nicht mehr dasselbe Bild zu sein scheinen. Überhaupt ist ihr Verfahren ein an Kühnheit gränzendes. Oft scheint sie einen mit andern in Verbindung stehenden Gegenstand mit einer so erschöpfenden Fülle zu zeichnen, daß wir für sie selbst zittern, es möchte ihr für die folgenden verwandten Gegenstände an hinlänglichem Stoffe fehlen, um sie uns im gehörigen Ebenmaaße vor das Auge zu stellen. Seien wir unbesorgt; sie hat dieses Verfahren mit Fleiß gewählt, um unsere Aufmerksamkeit und unsere Neugierde zu reizen: sie weiß schon im Voraus, daß sie sich mit Ehren aus der Sache ziehen wird. Sie hat selbst den Knoten so stark geschürzt, um die Freude zu haben, ihn vor unsern Augen glücklich zu lösen.
 
2) »Meine Beschreibung ist nach der Natur, sagte sie, bei Übergebung ihres Gedichts, zu ihrem Lehrer, ich legte mich eine Stunde früher schlafen und ließ mich zwei Stunden vor Sonnenaufgang wecken, also vor Entweichung der Nacht, um meiner Sache recht sicher zu sein. Ob meine Beschreibung genügend ist, weiß ich nicht, aber getreu ist sie.«