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Hedwig
(1882-
 
 Caspari
1922)
 
 
 
1. Chronika 1 - 12
 
   1.
 
Einer, den die Stille so umworben,
Daß für ihn das Leben abgestorben
Und ihm nichts mehr warm und wesensnah,
Ihm, den nichts mehr freute, nichts mehr kränkte,
Ward ein neues Leben, - er versenkte
Tief sich in die heilge Chronika.
 
Menschen, die ihn längst vergessen hatten
Und ihm lieb gewesen, wurden Schatten.
Aber starke, neue Menschen kamen,
Die sich paarten, zeugten und sich scharten.
Lebender als alle Gegenwarten.
Wuchsen sie ihm auf aus ihren Namen.
 
Namen, nichts als Namen - doch sie waren
Klingend ihm, wie brandende Fanfaren.
Andre wieder quollen in Vokalen
Überhitzt von schwülen Wohlgerüchen;
Doch auch solche voll von Widersprüchen
Und voll namenlos gehäuften Qualen
 
Waren unter ihnen, - und sie lohten
Auf im Zorn des Herrn. Doch manche boten
Sich ihm unbewußt und lieblich an.
Andre Namen wuchsen vielgestaltig
An zum Volk von Kriegern, und gewaltig,
Mehr denn zweiundzwanzigtausend Mann
 
Zogen sie, um für den Herrn zu streiten,
Manche stark, in offenen Grausamkeiten,
Manche tückisch, wie ein gärend Gift,
Andre wieder, die wie Pfeile schwirrten,
Doch dann kamen stille, milde Hirten, -
 
Und aus jener längst geschriebnen Schrift
Wuchs ihm Leben zu, so ungeheuer,
Daß in seinem Schönen starken Feuer
Menschen eigner Tage ihm verblaßten.
Und die Wandelnden im Weingelände
Wurden näher ihm als seine Hände,
Die das alte Buch der Bücher faßten.