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Anna
(1865-
 
 Ritter
1921)
 
 
 
Schlittenfahrt
 
Ein feiner Dunst liegt in der Luft,
Der Wald steht tief in Träumen,
Nur manchmal löst im Abendwind
Ein zitternd Flöckchen sich und rinnt
Schlaftrunken von den Bäumen ...
 
Die Peitsche knallt, der Schlitten saust,
Die Silberschellen klingen,
Wir sitzen, Arm an Arm geschmiegt,
Ein blasses Winterseelchen fliegt
Um uns mit weißen Schwingen
Und spricht:
  Wie heiß euer Athem weht!
  Mein kaltes Kleidchen zergeht
  Vor seinem Hauch;
  Es schlagen Flammen
  Aus euren Augen,
  Und eure Hände
  Und eure Seelen
  Die glühen auch. -
  Wir sind so kühl ...
  Schnee unser Pfühl,
  Schnee unsre Speise;
  Und unser Herzchen schlägt
  Unter dem weißen Kleid
  Ganz leise. -
  Wenn die Sonne scheint,
  Ziehn wir erschrocken
  Die Mützchen über das Ohr,
  Fassen uns an und hocken
  Unter den Zweigen. -
  Aber der Vater weint ...
  Der Vater ist alt
  Und die Mutter jung,
  Und die Sonne weckt
  Die Erinnerung
  An das lachende Leben!
  Dann liegt sie unter den weißen Decken
  So traumhaft schön,
  Kleine, kichernde Seufzer wehn
  Um ihrem Mund, die Hände recken
  Sich sehnsüchtig aus,
  Und über der Brust, der große Strauß
  Eisiger Blüthen nickt dazu:
»Schlafe, liebe Königin du ...!«
Aber der Vater weint!
  Wir fürchten uns,
  Wenn die Sonne scheint ...«
 
Die Peitsche knallt, der Schlitten saust,
Das Seelchen ist zerstoben,
Unmerklich hat die Winternacht
Die ganze, weiße Märchenpracht
Mit Dunkelheit umwoben.
 
Zu Thale gehts, es stäubt der Schnee,
Die Silberschellen klingen,
Am Wege blitzen Lichter auf,
Der Lärm der Stadt wacht brausend auf,
Und kleine Buben singen:
  »Morgen kommt der Weihnachtsmann ..«