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Maria
(1859-
 
 Janitschek
1927)
 
 
 
Phantasie
 
Wenns wirklich gäb ein jüngst Gericht!
Wenn auf flammendem Wagen,
mit erzenem Gesicht,
die letzte Schlacht zu schlagen
Christus zur Erde führ.
 
Wenn die heilige Schaar
all der Jahrtausende,
Blumen im weißen, moosigen Haar,
für ihre Kinder: die Menschen, zu zeugen,
vor ihn träte.
 
Wenn zu beiden Seiten des Throns
wie farblose Mauern,
erstarrt in Angst und Schauern
die lautlosen Menschenmillionen stünden!
 
In ihrer Mitte
ein schmaler Gang,
darauf die gerufene Seele bang
hinwandelte vor sein Frageauge? ...
 
Ich hör einen Namen ...
Wie Halme im Sturm
sind plötzlich diese Lahmen.
Auf dem schmalen Gang
steht ein Weib
mit gesenktem Gesicht.
»Verteidige dich!«
raunts hinter ihm.
Es verteidigt sich nicht.
 
Mit niederhängenden Armen
steht es stumm vor dem Richter,
und blickt in seiner Augen glimmende Lichter.
 
Was liegt in diesem Blick?
Vielleicht das Bekenntnis:
»Herr, zu arm bin ich,
um mich verteidigen zu können!«
Stille .....
Da fällt ein Tropfen
und noch einer, noch einer.
Ein Rieseln und Klopfen ..
es regnen die Augen all der Millionen ...
 
Die Flut quillt,
die Flut schwillt,
und von ihr getragen,
steigt die Seele der Sünderin
bis an die Brust des Richters
 
Wie ein bebend Vöglein
schmiegt sie sich
in die Höhle seiner allmachttragenden Schulter.
Er aber
preßt den Arm an sich,
und lächelt ...