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Maria
(1859-
 
 Janitschek
1927)
 
 
 
Trost
 
Es war ein Mensch voll derber Muskelkraft,
voll steten Hungers, heißer Phantasie,
voll übermütigen Trotzes, wie sie Stärke
erzeugt in dem robust Gesunden.
 
                                             Dieser
beging im Tage siebenmal so viel Sünden
als ein Gerechter. Mit der starken Faust
zerhieb er seines Nachbars Zaun und nahm sich
aus dessen Garten alle leckern Früchte,
die ihm gefielen.
 
                      Störte ihn ein Zweiter
bei einer seiner Tollheiten, so schlug er
ihn kurz entschlossen nieder.
                                       Dieser Wilde
erkrankte einst.
 
                      In langen Fiebernächten,
wenn bei der Lampe Schein die Wärterin
mit halbgeschlossnen Augen schweigend träumte,
da ging ein Schlürfen, Schreiten, heimlich Schleichen
durchs Zimmer hin, und halbvermummt erschienen
all die Verbrechen, die er einstens frevelnd
begangen hatte. Rotverschleiert trat
der Mord zu ihm und fletschte seine Zähne,
der Raub kroch wie ein großer schwarzer Hund
am Boden hin und zog an seiner Decke,
die Prasserei, ein eklig feistes Weib,
trat an sein Bett mit halbverwesten Speisen,
in dunkler Eisenrüstung starrt ein Ritter
mit bleichem Totenkopf ihn an: der Haß.
 
Und viele andre kamen noch herbei
aus allen Ecken. Schweißgebadet lag
der Kranke da und stöhnte; doch sie ließen
nicht von ihm, grinsend lagerten sie sich
an seiner Seite hin und sahn ihn an.
 
Und eines Nachts erhob er sich im Bette
mit Augen, die zwei Krallen glichen, die
sich wehren wollen vor Entsetzlichem.
 
»Ich sterbe ... dort ... die rote Hölle ... dort
... sie thut sich rauchend auf ... schon lecken Flammen
nach mir mit tausend Zungen ... Hülfe, Hülfe!«
 
Da legt sich eine Hand wie weißes Licht,
das sich zur Form verdichtet, sanft und stillend
dem Todesangstergriffnen auf die Brust.
 
»Vergeltung lebt auf Erden nur, sie hat dich
in ihren heißen Feuern schon geläutert;
dort drüben giebts nur Frieden, keine Hölle«.