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Maria Luise
(1899-
 
 Weissmann
1929)
 
 
 
Traumbrücke
 
Über die Tage, über die hellen,
Wenn sie der Abend verdunkelt hat,
Schießen die langen, schießen die schnellen
Brücken des Traumes von Stadt zu Stadt.
 
Über die Wälder, über die Meere
Wölbt sich mitternächtig ihr Flug,
Weit wie der Wolken schweifende Heere,
Breit wie der Vögel wandernder Zug,
 
Vogelgleich, wolkenhaft, ohne Entgleiten,
Denn ihre Pfeiler stehn nahe bewahrt;
Aber die Ufer, aber die Weiten
Ziehn sich entgegen in rasender Fahrt:
 
   Und es hebt sich zu der Spieluhr
   Leisem Gang die Schlange weiß,
   Die aus Königsgräbern auffuhr
   In dem blitzgebahnten Gleis.
 
   Und es schnellen tausendfachen
   Winkes Götter Arm um Arm,
   Von den Schalen, alten, flachen
   Nährt sich ihrer Finger Schwarm.
 
   Und es schwimmen nahe Wände
   Fort in Urwald und Gestade,
   Drinnen schlingen ohne Ende
   Sich die vielbegangnen Pfade.
 
   Unverhaltbar müssen spalten
   Munde sich in langen Schrein
   Und es brechen die Gestalten,
   Die befreiten, in sich ein.
 
Aber beim Scheine des Morgens beschlugen
Sich die Gesichter mit Ferne und Licht,
Und die sich töteten und die sich trugen,
Liegen allein und erkannten sich nicht.