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Elisabeth
(1808-
 
 Kulmann
1825)
 
 
 
Die Nixe
 
Komm, lieber schöner Knabe,
Komm näher an's Gestad!
Und willst du, so bereite
Ich dir ein lieblich Bad.
 
Du siehst, die See verbreitet
Sich spiegelhell vor dir;
Kein Wellchen soll sich regen,
Die See gehorchet mir,
 
Genieß des Bades Freuden
In blauer Fluthen Schooß,
Und schau von fern mein schönes
Krystallnes Sommerschloß.
 
Mit klaren Ambrafenstern,
Mit Perlenmutter-Thor:
Du kommst bei seinem Anblick
Dir wie im Himmel vor.
 
Und vollends meine Gärten,
Wo Baum sich reiht an Baum
Mit Obst so vieler Arten,
Du kennst die Namen kaum.
 
Und Wundervögel singen
In Meng' auf jedem Ast,
Die Sinne, Kind, vergehen
Beim Horchen einem fast.
 
Komm, gib die Hand mir, komme!
Die Fluth ist seicht und lau;
Sieh hier viel bunte Muscheln
Wie ausgestellt zur Schau.
 
Komm, komm! ich geb' in Menge
Korallen, Perlen dir;
Kehrst du nach Hause, Mutter
Und Schwestern danken mir.
 
Und Früchte sollst du kosten,
Wie du noch nie geschmeckt;
Komm, gib den Arm mir, Knabe,
Damit dich ja nichts schreckt, -
 
Der Knabe naht der Nixe,
Kann ihr nicht widerstehn,
Steigt in die Fluth; kein Auge
Hat ihn seitdem gesehn.
 
 
 

Anmerkung des Herausgebers K. F. von Großheinrich:
 
Diese Sage hat viele Ähnlichkeit mit Göthe's Fischer, kann aber aus dem Grunde keine Nachahmung desselben sein, weil der Verf. damals dieses Gedicht unbekannt war, so wie sie, ihrem und selbst ihres Lehrers höchstbeschränktem Büchervorrathe gemäß, nur äußerst wenig von Göthe's Werken kannte. Unbekannt war dies Gedicht ihrem Lehrer nicht, er besaß es aber weder gedruckt noch geschrieben. Hätte er es aber auch besessen, so würde er, da er bereits ihr Vorhaben wußte, sich wohl gehütet haben, vorlaut von seinem Schatze zu sprechen, und das aus zwei Ursachen: erstens, weil er sich selbst der Freude nicht hätte berauben wollen, zu sehen, in welchem Maaße, bei Bearbeitung desselben Gegenstandes sie sich entweder Göthen nähern oder von ihm entfernen würde; zweitens, weil er überzeugt gewesen wäre, daß sie, in Kenntniß gesetzt von dem Dasein des in Rede stehenden Gedichtes, bei dem Gedanken eines Wettstreits mit dem Halbgotte zurückgebebt wäre, und auf die Bearbeitung dieses Stoffes Verzicht gethan hätte. Denn kannte sie Göthe's Fischer nicht, so kannte sie doch sein Gränzen der Menschheit, und folglich die Warnung:
 
                   »mit Göttern
             Soll sich nicht messen
             Irgend ein Mensch.«