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Elisabeth
(1808-
 
 Kulmann
1825)
 
 
 
Der Winter
 
Der glückliche Bewohner
Des gleichenlosen Quito,
Dem, eh' hier tausend Rosen
Verblühn, dort tausend andre
Die Blumenkelche öffnen
Dem jede Sonne neue
Und köstlichere Früchte
Zur Reife bringt im Schooße
Der Erd', im Raum der Lüfte;
Dem jede Morgenröthe
Ein Heer von Schmetterlingen,
Mit zauberischen Farben
Geschmücket, ringsher sendet,
Und jede Abendröthe
Die festlichen Gesänge
Ertönen läßt von tausend
Tonreichen Nachtigallen;
Er wird des ew'gen Frühlings
Der Heimath manchmal müde.
O der Natur verwöhntes,
Und unzufriednes Schooßkind,
Weil sie dir alle Wünsche
Im Übermaß erfüllet,
Könnt' ich, nur einen Tag lang,
In deiner Götterwiege
Mich freudetrunken schaukeln!
Und du, komm auf den Flügeln
Des Sturms, auf einen Tag nur,
An meines Vaterlandes
Dem Pole nahe Gränze!
Zur Mittagsstunde siehest
Du um dich her kaum Dämmrung.
Kein Laut von einem Vogel!
Kein Duft von einer Blume!
Kein Murmeln einer Quelle!
Kein Fußtritt eines Menschen!
Sechs Monde lang umkreis'te
Den Himmelsrand die Sonne,
Dann ging die Sonne unter,
Um nimmer aufzugehen,
Es stirbt hier selbst die Sonne.
Es schlummert alles Leben,
Wie Todte in dem Grabe,
Tief unter einer starren
Gränzlosen Eisesrinde.
Du bebest? Harr' ein Weilchen,
Und du wirst noch bewundern! ...
Siehst du im hohen Norden
Dies ungeheure, rege,
Stets klarer sich und klarer
Verbreitende Gewebe
Von rosigen und weißen
Und grünen Diamanten,
Gleich einem prunken Fächer,
Den halben Himmel decken?
Siehst du vom Horizonte,
Gleich einem reichen Saume
Von lichten Franzen, oder
Gleich einer Ähre Stacheln,
Belebte Strahlenbündel
In Menge sich erheben? ...
Warst du vielleicht, o Sonne,
Beherrscherin des Weltalls,
Es endlich müde, ewig
Im Osten auf- und ewig
Im Westen frohnweis unter
Zu gehn, ein Spott dir selber,
Und zaubertest mit einem
Allmächt'gen Winke Dämmrung
Und Morgenroth nach Norden,
Um den erstaunten Süden
Zum erstenmal am Abend
Mit Purpur zu umhängen? ...
Ja, glücklichere Kinder
Gemäßigterer Zonen,
Es ließ der Herr der Schöpfung
Auch uns, am Pol Geborne,
Nicht ohne manche Freude,
Um die ihr uns beneidet!
 
 
 

Anmerkung des Herausgebers K. F. von Großheinrich:
 
Wir erinnern uns, nach Durchlesung des Herbstes zur Verfasserin gesagt zu haben: »Die drei ersten Jahrszeiten sind Ihnen über meine Erwartung gelungen, der Winter aber wird Ihnen zu schaffen machen.« - In meiner Einbildungskraft ist er schon fertig. Ich habe ihn, wie reiche Leute ein neues Kleid, aus dem ganzen Stücke herausgeschnitten; es bedarf nur mehr des Zusammennähens. - »Würden Sie mir wohl erlauben, das Prachtkleid in seinen Elementen zu sehen?« - Recht gerne! es besteht aus drei Stücken. - »Und diese sind?« - Quito, Kola, Nordlicht. - Nach einigem Nachdenken sagten wir: »Wir glauben zum Theile, oder besser gesagt, einen Theil Ihres Geheimnisses zu errathen.« - Ich würde mich ja an meinem Vaterlande versündigen, wenn ich den übrigen Jahrszeiten, die bei uns nur Zugvögel sind, vor dem eingebornen Winter den Vorzug gäbe. In meinen Augen hat der Winter nur einen Fehler an sich, und der ist, daß bei uns (das heißt bei Mutter und mir) das Holz immer etwas knapp ist. - Und dazu lächelte sie so herzlich, als ob sie sich an dem Winter zu versündigen glaubte, wenn sie in ihren Gesichtszügen etwas von den Leiden errathen ließe, die ihr der, leider! nur zu oft eintretende Holzmangel in der acht Monate langen Jahrszeit verursachte.
 
Wir sehen also hier einen schlagenden Beweis von den Vortheilen, die sie aus einem ihrer Lieblingselemente zu ziehen wußte, aus dem Kontraste. Erst schildert sie uns den ewigen Frühling Quito's, stellt ihm dann den ewigen Winter der über Kola hinausliegenden Gegend an die Seite, wählt dann aus allen Winterphänomenen vorzugsweise das Nordlicht, und die Sache ist abgethan.
 
Ich hoffe, die Leser werden mit uns einverstanden sein, daß sie sich mit Ehren aus allen Schwierigkeiten des zu behandelnden Gegenstandes gezogen habe.