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Anna Louisa
(1722-
 
 Karsch
1791)
 
 
 
An einen Ingenieur,
Liebhaber der Phyllis
 
Du kennst den Grund der Festungswerke.
Mit einem Blicke messest du
Der Schanzen und der Mauern Stärke;
Doch meine Muse ruft dir zu:
So wahr, als Friedrich unvergessen
Bewundert wird in später Zeit,
So wahr ist dies Unmöglichkeit
Des Herzens Tiefen auszumessen.
Sei klug, bedenke dich so schlau
Wie einst Ulysses ist gewesen,
Nie wirst du der verschmitzten Frau
Verborgenste Gedanken lesen.
Sie decket ihre feinste List
Mit Blumen zu, bis du gefangen
Gleich einem Dohnenvogel bist.
Sie schmachtet, seufzt, netzt ihre Wangen
Mit Thränen, die sie künftig weint.
Sie nennt dich oft in einer Stunde
Wohl tausendmal den besten Freund,
Und schwört mit schmeichlerischem Munde
Beim Grabmal ihres Vaters, bei
Den Sternen und bei allen Göttern,
Bei Sonnenschein und Donnerwettern,
Daß ihr dein Kuß noch süßer sei,
Als Süßigkeit von jungen Bienen;
Und zaubert dich mit holden Mienen
An ihre giftbestrichne Brust
Und nennt dich ihre größte Lust,
Den ersten Abgott ihrer Seele,
Den reichsten Jüngling von der Welt,
Den Menschen, der in einer Höhle
Mehr ihren Augen wohlgefällt,
Als Prinzen, die so fein nicht fühlen
Im Prunksaal und auf goldnen Stühlen
Und einer sammtbezognen Bank.
Sie stellt sich gar vor Liebe krank,
Und redet nur gebrochne Töne.
O sanfter Jüngling, glaub es nicht:
Es ist die Stimme der Syrene,
Die ausstudirte Worte spricht.